Bildung und Wissenschaft, Mai 2006

Radikalenerlass - Zivilcourage und durchhalten



Berufsverbot: Den aktuellen Fall um das Berufsverbot gegen Michael Csaszkóczy und das GEW Jubiläum nahm die Redaktion zum Anlass, in der Geschichte zu stöbern. Peter Schild sprach mit Johanna Hilbrandt und Michael Rux erinnerte sich an die Zeit des Radikalenerlass.

1978 machte Johanna Büchele ungewollt Schlagzeilen. Aufgrund eines anonymen Briefes setzte der damalige Landtagsabgeordnete und Vorsitzendes des Kulturpolitischen Ausschusses Karl-Theodor Uhrig (CDU) eine Prozedur in Gang, um die Verfassungstreue der Sonderschullehrerin zu überprüfen: Zweimal wurde die Probezeit verlängert. Die Vorwürfe lauteten vornehmlich: ihr Engagement gegen Berufsverbote, zum Paragraphen 218 und gegen die „Militarisierung des Bildungswesens“. Das Spektakuläre daran: Frau Büchele gehörte nicht etwa einer K-Gruppe an, sondern war Mitglied der FDP, der Jungdemokraten (DJD), der GEW und der AjLE. Auch dem Letzten ist damals deutlich geworden, dass sich der Radikalenerlass bürokratisch verselbstständigt hatte, nicht der Abwehr einer sowieso eher unwahrscheinlichen konkreten Gefahr diente, sondern in den „rechten" Händen jederzeit zur Unterdrückung unliebsamer Meinungsäußerungen genutzt werden konnte. Johanna Büchele, inzwischen Frau Hilbrandt, war bereit, b&w einige Fragen zu beantworten.



Große Solidarität erfahren

b&w: Frau Hilbrandt, wie geht es Ihnen heute, fast drei Jahrzehnte, nachdem Ihr beruflicher Lebensweg durch angebliche „Zweifel an Ihrer Verfassungstreue" in Frage gestellt worden war?

Hilbrandt: Ich bin vor 4 Jahren wieder nach Baden-Württemberg

zurückgekehrt und arbeite als Lehrerin in Freiburg an einer Schule für Erziehungshilfe. Damals, nach Beendigung meines Verfahrens, bin ich nach Niedersachsen gezogen und hatte dort keine Schwierigkeiten, in den Schuldienst zu kommen.

b&w: Was empfanden Sie eigentlich damals, als Sie von den anonymen Anschuldigungen hörten und deshalb zweimal zur Anhörung ins Oberschulamt geladen wurden?

Hilbrandt: In die Anhörung auf das OS A Freiburg bin ich aufgeregt, ängstlich und sehr wütend gegangen. Angst um die berufliche Existenz, Wut auf die Schulbürokratie, die aufgrund anonymer Anschuldigungen diesen Vernehmungsapparat in Gang setzte.

b&w: Wie hat Ihr privates und berufliches Umfeld auf die Situation reagiert?

Hilbrandt: Ich habe seinerzeit große Solidarität erfahren, sowohl von meinem Kollegium einschließlich der Schulleitung, als auch vom politischen und persönlichen Freundeskreis. Um die Unterstützung der GEW, obwohl schon als Studentin GEW-Mitglied, musste ich mich sehr bemühen. Die Gewährung von Rechtsschutz war nicht selbstverständlich und die Wahl des Anwalts wurde vorgeschrieben.

b&w: Sie hatten prominente Fürsprecher, gute Dienstbeurteilungen und haben schließlich doch Ihre Verbeamtung auf Lebenszeit durchsetzen können. Haben Sie sich danach noch politisch betätigt?

Hilbrandt: Mein politisches Engagement habe ich mit dem „Rückzug“ nach Freiburg eingestellt. Davor war ich, mit Unterbrechungen, immer wieder politisch aktiv.

b&w: Wenn Sie zurückblicken, inwieweit haben die damaligen Ereignisse Sie geprägt, Ihr weiteres Leben beeinflusst?

Hilbrandt: Zivilcourage und geschärfter Blick für autoritäre Strukturen sind vielleicht Ergebnis dieser Erfahrungen.

b&w: 2002 titelte die Badische Zeitung zum Radikalenerlass am 30. Jahrestag seiner Unterzeichnung „Willy Brandts historischer Irrtum“. Haben Sie es je für möglich gehalten, dass es noch 2005/2006 abermals einen Berufsverbotsfall gibt?

Hilbrandt: Dass es in Baden-Württemberg wieder einen Berufsverbotsfall gibt, wundert mich nicht. 50 Jahre und mehr CDU-Kultusbürokratie, was soll sich da ändern?

b&w: Haben Sie einen Rat für den Kollegen Csaszkóczy?

Hilbrandt: Öffentlichkeit herstellen, Unterstützung organisieren, Eltern mobilisieren und vor allem durchhalten.

b&w: Frau Hilbrandt, vielen Dank für Ihre offenen Worte.



Berufsverbote und Unvereinbarkeitsbeschlüsse

Als Willy Brandt 1971 im Verein mit den Ministerpräsidenten der Länder den „Radikalenerlass“ beschloss, der in Baden-Württemberg besonders eifrig exekutiert wurde und neuerdings wieder praktiziert wird, bedurfte es großer innergewerkschaftlicher Auseinandersetzungen, um in der GEW und der Lehrerschaft insgesamt eine breite Mehrheit für die Position zu gewinnen, die die GEW seitdem offensiv vertritt: Eine politische Überzeugung - auch eine „radikale“ - zu haben und dafür einzutreten, darf nicht das Kriterium dafür sein, jungen Menschen den Weg in den Schuldienst zu versperren. Wer sein Amt zur politischen Indoktrination junger Menschen missbraucht, kann mithilfe des Disziplinarrechts zur Ordnung gerufen werden. Aber Lehrerinnen und Lehrer haben nicht „neutral“ zu sein. Im Gegenteil: Politisch zu denken und zu handeln, ist eher ein Ausweis gesellschaftspolitischer Reife. Die GEW hat den „Radikalenerlass“ und die Politik der Berufsverbote sowie der damit verbundenen allgemeinen Verdächtigung und Bespitzelung auch deshalb bekämpft, weil die Meinungsfreiheit als „Elixier der Demokratie“ das wesentliche Fundament genau jenes freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaats ist, den die Hexenjäger in Politik und Schulverwaltung zu schützen vorgaben.

Dies war die Zeit, als die GEW als die „Akademikergewerkschaft“ vielen der stärker als je zuvor politisierten jungen Menschen als Zuflucht und Ort des politischen Handelns erschien. Indem sich die GEW den „Achtundsechzigern“ und ihrem veränderten, radikaleren Denken und Handeln öffnete (und beispielsweise - anders als die Mehrheit

der deutschen Gewerkschaften - auch Studierende als Mitglieder aufnahm), erfüllte sie die wichtige Aufgabe der gesellschaftlichen Integration. Sie setzte sich damit zugleich einer wahren Zerreißprobe aus, denn der „Marsch durch die Institutionen“ fand mitten in der GEW statt. Die gewachsenen Traditionen des „Lehrerverein“-Milieus und die Ungeduld sowie der Radikalismus der vielen neuen, überwiegend jungen Mitglieder trafen unvermittelt aufeinander. Dies ging einher mit einer weiteren Öffnung der GEW, die sich Anfang der siebziger Jahre vom gewerkschaftlichen Verein der Volksschullehrer (und der aus diesem Lehramt hervorgegangenen Mittelschul- bzw. Realschullehrer sowie der Hilfsschul- bzw. Sonderschullehrer) zu einer Gewerkschaft aller im Bildungswesen Beschäftigten wandelte. Die neu hinzukommenden Studienräte der Gymnasien und beruflichen Schulen sowie die gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten der Hochschulen (vor allem des „Mittelbaus“) veränderten den Stil, die Interessenlage und die Artikulationsformen des gewerkschaftlichen Engagements. Teilweise führte der zitierte „Marsch durch die Institutionen" in der GEW dazu, dass allgemeinpolitische Ziele die klassischen Diskussions- und Betätigungsfelder überlagerten. Aus Furcht, es werde nicht bei klassenkämpferischen Parolen bleiben, sondern die GEW als Organisation würde von den jungen Aktivisten übernommen werden, die sich in zahlreichen kommunistischen Gruppierung engagierten und zugleich aktive Mitglieder oder gar Vorstände der GEW sein wollten, beschloss die GEW die „Unvereinbarkeit“ bestimmter Parteizugehörigkeiten mit der GEW-Mitgliedschaft. Dies führte zu der von vielen als paradox empfundenen Situation, dass sich die GEW einerseits vehement für das Verbleiben von Mitgliedern im Schuldienst einsetzte, denen die Schulbehörde, gestützt auf zweifelhafte Dossiers des Verfassungsschutzes, die Mitgliedschaft in kommunistischen Gruppen vorwarf, ohne ihnen Verfehlungen im Unterricht vorwerfen zu können, und dass die gleiche GEW anderen Angehörigen bestimmter kommunistischer Splittergruppen durch Vorstandsbeschluss die Mitgliederrechte entzog. Die Auseinandersetzung um die Richtigkeit und Berechtigung dieser Politik spaltete die GEW und führte zu erbitterten politischen Kämpfen. Erst als auf der einen Seite die Regierungen in Bund und Ländern die Politik der „Berufsverbote“ faktisch beendeten und als die politischen Gruppierungen wie der Kommunistische Bund Westdeutschland in der Bedeutungslosigkeit verschwunden war, kehrte auch in der GEW wieder Ruhe ein. Was im Klima des „Deutschen Herbstes“ (RAF) noch nicht möglich erschien, ist heute abgeschlossen: Die „Unvereinbarkeitsbeschlüsse“ sind längst aus der Satzung gestrichen. Manche Kolleginnen und Kollegen, die damals aus ihrer Gewerkschaft geworfen wurden oder im Zorn ausgetreten waren, sind heute geachtete und geschätzte Mitglieder in GEW-Vorstandsgremien. Die Auseinandersetzung um Gedanken- und Meinungsfreiheit ist jedoch nicht vorbei: Das Land Baden-Württemberg, das beim „Radikalenerlass“ bis zuletzt eine „Scharfmacherrolle“ spielte, knüpft neuerdings wieder an seine offiziell nie aufgegebene Haltung an.

Michael Rux